Die Nacht war sehr unruhig und stürmisch. Es war schon Tage her, dass Nebrot das letzte mal ruhig und erholsam unter Ugas Schutz schlafen konnte. Nun war er wieder unterwegs, um die unerklärlichen Kräfte zu erforschen und die unheilverkündenden Zeichen zu deuten. Die Krüppelbüsche, die die Höhle eigentlich schützend umgaben, bogen sich mit lautem Stöhnen unter den heftigen Böhen. Ein paar Schneeflocken wurden vom Sturm hin- und hergewirbelt, ohne den Boden je zu erreichen. Selbst die Tiere der Nacht hielten sich hungrig in ihren schützenden Verstecken auf und harrtem dem Ende des Unwetters entgegen.
Nebrot hatte sich längst auf seinem Lager ausgestreckt, aber die seltsame Stimmung, die diese Orkannacht mit sich brachte, hielt ihn bis weit über Mitternacht hinaus wach. Als er endlich in einen unruhigen Dämmerschlaf gefallen war, verfolgte sie ihn bis in seine Träume hinein.
"Nicknehm!" Nebrot erkannte die schemenhafte Gestalt vor sich im dichten Nebel, doch egal, wie laut er rief, sie hörte ihn nicht, und egal, wie schnell er rannte, er konnte den Freund vor sich nicht einholen. Die Nebelschwaden schienen mit unsichtbaren Händen nach ihm zu greifen und an ihm zu zerren, wenn er rannte, und sie verschluckten seine Worte, noch ehe sie seinen Mund richtig verließen. Es hatte den Anschein, als wäre der Dunst ein körperlich gewordener, aber dennoch ungreifbarer Widersacher. Nebrot spürte seine wachsende Verzweiflung. Sein langjähriger Weggefährte war in Gefahr, und obwohl sie nur ein paar Schritte trennten, war es ihm verwehrt, ihm zu helfen. Obwohl die Bedrohung zum Greifen nahe schien, konnte er ihre Quelle nicht ausfindig machen. Er musste den Freund warnen! Nebrot rannte immer schneller und schrie immer lauter, doch seine Anstrengungen blieben vergebens.
Da plötzlich wurde Nicknehm wie aus dem Nichts attakiert. Nebrot konnte nur die Umrisse der Angreifer erkennen, und dann nahm ihm eine undurchdringliche Nebelwand die Sicht, er konnte nur noch die von den unzähligen, feinen Wassertröpfchen gedämpften Kampfgeräusche vernehmen. Schließlich, mit einem lauten, schrillen Schrei, der unverkennbar aus Nicknehms Kehle kam, verstummten auch diese.
Die Angst um ihn raubte Nebrot fast den Atem, und die Nebelwelt begann sich immer schneller um ihn zu drehen, so dass er bald die Orientierung verlor. Wie aus dem Nichts tauchten auf einmal seltsame, bunte Fetzen vor seinen Augen im weißen Wirbel auf. Es dauerte lange, bis Nebrot erkannte, dass es sich um Blütenblätter handelte. Dann hörte der weiße Wirbel auf, sich um Nebrot zu drehen, und die Blütenblätter fielen zu Boden. Doch nicht lautlos und sanft, wie man es erwartet hätte, sondern jede einzelne traf mit einem leisen, metallischen "Pling" auf dem Boden auf. Und noch bevor Nebrot dies wirklich bewusst wurde, vernahm er aus der Ferne die schwache, verzerrte Stimme seines Freundes. "Die Blume des Lebens! Nebrot, sie haben die Blume des Lebens zerstört! Finde sie! Erschaffe sie neu! Rette mich und Thoka!"
Nebrot saß senkrecht auf seinem Lager. Der Sturm hatte sich gelegt, und ein leichter Schneefall hatte eingesetzt, der die Umgebung in eine stille, harmlos erscheinende weiße Winterlandschaft verwandelte. Doch Nebrot war zu erregt von seinem Traum, so dass er aufstand und durch den frisch gefallenen Schnee watete, in der Hoffnung, Antworten oder Erklärungen für seinen Traum zu finden. Welche Blume? Was sollte er finden?
Nachdem er lange Zeit vor sich hinsinnend dagesessen hatte, beschloss er, Uga aufzusuchen. Er erhob sich und machte sich auf den Weg. Der Schneefall hatte inzwischenaufgehört, der Himmel klarte auf, und eine eisige Kälte legte sich über das Land.